Kapitel 9.2
Ort: Grafschaft Surrey / England (UK) - geheimer Zugang zu Croft Manor -
11:42 Uhr
Lara stand hinter Matthew und schaltete ihre Taschenlampe ein. Ihre Augen brauchten eine Weile bis sie sich an die Sichtverhältnisse gewöhnt hatten. Der Gang war schmal und in die stabileren Erdschichten gegraben. Der schmale Gang wurde durch in regelmäßigen Abständen eingesetzte Stützbalken gehalten. Einige dieser Balken sahen aus als wären sie von einem biblischen Alter, manch anderer war noch relativ neu.
"Die Renovierungsarbeiten schleifen wohl etwas, Lara?"
"Sie gehen zwar langsam voran, aber voran. Mit der Zeit wird hier sicher wieder alles wie neu sein."
"Hast du den Gang angelegt, Lara?"
"Nein, dieser reicht bis in die angelsächsische Zeit zurück. Damals hatte hier ein lokaler Fürst seinen Sitz. 1066 ist dieser Fürst allerdings bei der Schlacht von Hastings ums Leben gekommen, während der normannischen Invasion."
"Der Gang hat ihm nicht gerade viel genützt."
"Das kann man so sagen, Matthew. Die Normannen errichteten später hier eine Burg, Abbingdon Castle. Sie war Teil eines Festungssystems das London gegen Angriffe abschirmen sollte. William I., the Conqueror, befürchtete anscheinend er könnte die Macht durch ein ähnliches Ereignis verlieren, das ihn einst auf den englischen Thron brachte. Soll ich weitererzählen?"
"Erzähl nur weiter, Lara! Ich finde das spannend. William I. hätte sich doch gar keine Sorge machen brauchen. Seine Invasion der britischen Inseln war die letzte die Erfolg hatte."
"Sicher, aber das konnte er ja noch nicht wissen. Die Burg verlor jedenfalls über die Zeit an Bedeutung. Die englischen Könige waren oft außer Landes, denn sie führten meist Krieg gegen Frankreich, der Hundertjährige Krieg eben."
"Das hat mit deiner Familie aber noch nichts zu tun, oder?"
"Nein, wir bekamen diese Ländereien erst um 1547 durch König Edward VI. verliehen zusammen mit dem Titel derer zu Abbingdon. Die alte Burg wurde schließlich zu Croft Manor umgebaut."
"Ah, sehr interessant und diesen Gang gab es die ganze Zeit immer noch?"
"Ja sicher. Es waren unruhige Zeiten und da kann man so etwas immer mal gebrauchen."
"Stimmt, wann wurde der Gang denn das letzte Mal benutzt?"
"Das war während es Englischen Bürgerkrieges durch Lord Malcolm Croft, Earl of Abbingdon. Er war Royalist und somit ein loyaler Anhänger von König Charles I. Stuart. Er musste Croft Manor durch den Geheimgang verlassen nachdem Parlamentstruppen sich dem Anwesen näherten. Viel gebracht hat es ihm nicht. Er wurde durch die Parteigänger von Oliver Cromwell gefangen genommen und verlor kurz darauf seinen Kopf."
"Ich mag keine Geschichten ohne Happy End", stellte Matthew klar. "Wie erging es den deine Familie danach?"
"Naja ausgestorben sind sie nicht, denn das gäbe es mich ja nicht. Sie mussten sich Cromwell unterwerfen und die Sache des Parlaments unterstützen. Dafür durften sie sämtliche Besitzungen und Titel behalten. Unerwartet milde."
"Zum Glück, nicht auszudenken, wenn es dich nicht gäbe!"
"Danke."
"Ganz ehrlich, für mich sind solche großen Häuser nichts. Allein schon der Gedanke dass man sich im Westflügel aufhält und keine Ahnung hat was gerade im Ostflügel so vor sich geht ist irgendwie beängstigend. Ich mag es lieber überschaubar."
Lara musste ein wenig lachen. "Kann ich verstehen, aber ich war das schon von Anfang so gewöhnt. Ich kenne es nicht anders, dass macht es aus."
"Daran wird es liegen", pflichtete Matthew ihr bei. "Wie hast du den Gang denn wieder gefunden, Lara?"
"Vor Jahren habe ich den Manor gründlich renovieren lassen und dabei bin ich auf den alten Geheimgang gestoßen. Der frühere Ausgang war leider irreparabel und so habe ich den neuen angelegt, bei dem Friedhof. Den habe ich unter falschen Namen gekauft damit man ihn nicht bis zu mir zurückverfolgen kann."
"Sicher eine umsichtige Maßnahme", antworte Matthew anerkennend.
"Denke ich mir auch", erwiderte Lara. "Wie wohnst du denn so, Matthew?"
"Ich habe ein Blockhaus, das ein paar Kilometer nördlich von Vancouver gelegen ist. Es liegt malerisch in einem Fjord umgeben von dichten Nadelwäldern. Mit der Fähre kann man recht schnell von Vancouver aus über die Georgiastraße nach Victoria, auf Vancouver Island, oder Seattle, in den USA. Trekking-Touren durch die Wälder von British Columbia machen auch immer wieder Spaß. In Vancouver selbst ist auch immer wieder was los."
"Das muss sehr schön sein", stimmte Lara zu.
"Ist es, wenn wir das Amulett gefunden haben lade ich dich gerne zu einem Urlaub bei mir ein."
"Auf das Angebot komme ich gern zurück, Matthew." Antwortete Lara. "Wohnst du dort allein?"
"Nein, ich teile mir das Haus mit einer süßen schwarzhaarigen."
"So!"
"Ja, sie macht miau und hört auf den wunderschönen Namen Minerva. Na gut, hören ist eigentlich zu viel gesagt. Es Ist eine Katze."
"Minerva, die römische Siegesgöttin und Schutzgöttin der Dichter und Lehrer."
"Ja, ich habe es etwas mit dem Mythologie-Zeugs. Magst du so etwas nicht?"
"Doch schon, allein schon wegen meiner Arbeit", antwortete Lara und blieb plötzlich stehen.
"Warum bleiben wir stehen?"
"Da ist eine Wand."
"Ist das gut?"
"Ja, ist es, Matthew", antwortete eine zunehmend heitere Lara.
Sie schaute sich die Wand rechts von ihrem Standort an und suchte nach einem Panel. Sie fand es und wischte erst einmal eine ganze Menge Staub weg und zum Vorschein kam ein Handscanner. Lara legte ihre rechte Hand auf und das Gerät wurde aktiviert. Die Auflagefläche erschien in einer roten Farbe. Es gab ein elektronisches Surren und eine Lichtschranke fuhr von oben nach unten. Das Panel änderte daraufhin die Farbe von rot zu grün und ein Tastenfeld, oberhalb des Panels, kam aus der Wand herausgefahren. Lara tippte zügig eine Zahlenkombination ein und schon kurz danach öffnete sich ein weiterer Durchgang.
"Du magst keinen Besuch?"
"Doch schon, aber unangemeldeten grundsätzlich nicht. Bedeutet meistens nur irgendwelche Unannehmlichkeiten. Beeil dich Matthew, der Durchgang schließt sich automatisch!"
Ort: Croft Manor
12:37 Uhr
Lara durchlief den Durchgang und Matthew folgte ihr knapp. Beide betraten einen völlig abgedunkelten Raum. Hinter ihnen wurde derweil der Durchgang wieder geschlossen. Im Lichtkegel der Taschenlampen tauchten einige bizarre Gegenstände auf und Matthew erkannte dass die Wände großflächig mit edlen Hölzern vertäfelt waren. Einige Vitrinen, die im Zentrum aufgestellt waren, erregten seine besondere Aufmerksamkeit. Lara lief zu einer Ecke des Raumes und schaltete das Licht ein. Dies hatte aber nur eine gedämmte Wirkung.
Die eine Wand des Raumes wurde durch einen großen Kamin bestimmt, der durch Bücherregale flankiert war. Die übrigen Wände wiesen die Holzvertäfelung auf. Matthew steuerte die erstbeste Vitrine an und wollte nachschauen was sich darin befand.
Iris. Stand auf einem kleinen Schildchen.
"Ist ja ein merkwürdiges Ding. Besteht aus Schalen die ineinander verschachtelt sind und sich um einen zentralen Punkt drehen. Wie funktioniert das?"
"Das habe ich auch noch nicht so genau feststellen können", antworte Lara und machte sich bei ihrer Wandseite an der Holzvertäfelung zu schaffen. Sie drückte einen verborgenen Knopf und ein Teil der Vertäfelung fuhr zur Seite. Vor Lara 's Augen breitete sich ein Videoüberwachungssystem auf, das allerdings noch abgestellt war.
"Ist ja der feinste Highend-Kram", meinte Matthew der sich nur langsam von den Vitrinen hatte lösen können. Der Dolch von Xian und der zerbrochene Scion schienen wesentlich interessanter. Während er zu Lara lief fiel ihm noch eine Jade-Katzenstatue auf, aber er entschied sich seine zahlreichen Fragen zurückzustellen, denn Lara's Gedankenwelt war mit anderen Dingen beschäftigt.
"So ähnlich hat sich Zip auch ausgedrückt", erwiderte sie. Lara fuhr das EDV-Terminal hoch und nach und nach erwachte ein Videoschirm nach dem Anderen zum Leben. Während das System sich aktivierte lies Matthew seinen Blick durch den Raum zum Kamin wandern und dieser blieb schließlich an dem Kopf des T-Rex hängen. Verwundert wollte er doch noch was sagen, entschied aber es erst einmal bleiben zu lassen.
"Kann man von hier aus das ganze Haus überwachen?"
"Ja, kann man, aber das System habe ich nur für Notfälle installiert. Ich spioniere meinen Freunden nicht hinterher. Sie wissen auch, dass es da ist."
"Da hast du was missverstanden, Lara. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen."
"Okay. Normalerweise bin ich nicht so dünnhäutig, Matthew. Tut mir leid."
"Kein Problem. Ich kann dich verstehen", antwortete dieser und beide wendeten sich dem Geschehen auf den Bildschirmen zu.
"Auf den Galerien sehe ich jeweils Einen dieser schwerbewaffneten Typen", eröffnete Lara wieder das Gespräch.
"Im Schwimmbad ist niemand", sagte Matthew und fügte ergänzend hinzu. "So ein großes Haus hat offenbar auch seine Vorteile."
"Kommst auf den Geschmack, Matthew." Stellte Lara fest und betätigte einen Schalter. Eine andere Kamera im Raum mit dem Schwimmbad übermittelte nun Bilder von der anderen Seite. "Nein, ist wirklich niemand dort."
"Im Spa oder Trainingsraum ist ebenfalls nichts los."
"Gut, im Hof stehen zwei Wachen neben den Fahrzeugen."
"In dem großen Wohnbereich scheint ne größere Gruppe zu sein ansonsten ist es im gesamten Haus ruhig."
"Ja, die Eindringlinge scheinen allerdings auch kein besonderes Interesse zu haben, das ganze Haus zu kontrollieren. Schauen wir uns den Wohnbereich genauer an." Lara zoomte mit der Kamera tiefer rein.
"Da ist Winston", ergriff Lara wieder das Wort. "Er sitzt auf einem der Sessel und wird von zwei Söldnern bewacht. Ich kann Zip und Alister nicht sehen."
"Vielleicht sind sie woanders. Ich erkenne vier weitere Söldner und da stehen zwei Personen im Zentrum des Raumes. Ein Mann und eine Frau."
"Scheinen die Truppe anzuführen. Unsere Verfolger bekommen zumindest jetzt ein Gesicht." Erwiderte Lara zuversichtlich.
"Moment mal, den Typ habe ich doch schon einmal gesehen", sagte Matthew nachdem sich der Mann etwas umgedreht hatte und wild gestikulierte. Er führte mit der Frau offenbar ein Streitgespräch.
"Woher denn?" Wollte Lara wissen.
"Auf der Fähre habe ich ihn im Fernsehen gesehen. Er war auf dem Serailow-Anwesen."
"Na toll, ich habe die direkt auf die Spur des Amulettes geführt. Wirklich eine brillante Leistung von mir", sagte Lara säuerlich.
"Woher hättest du das ahnen sollen. Killerkommandos machen sich doch im Allgemeinen nichts aus mythischen Altertümern."
"Da hast du Recht, aber da fragt man sich doch warum die da sich doch für sowas interessieren."
"Gute Frage, nächste Frage!" Antworte Matthew und schaute sich das Bild des Videoschirms genauer an. Besonders die Frau erweckte sein Interesse. Sie kam ihm bekannt vor.
"Kandy? Sie muss es sein."
"Was?" Platzte es aus Lara heraus. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen als sie den Namen vernahm, denn es konnte nicht sein. "Las mich mal sehen!"
Lara schaute sich den Bildschirm an und musste Matthew recht geben. Diese Frau sah tatsächlich aus wie Kandy McClusky, aber dies war unmöglich.
"Was ist los Lara? Du siehst aus als ob du einen Geist sehen würdest."
"Das kann man so sagen", antwortete sie zögernd.
"Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das du mir mal erklärst was du damals in der Oase von Al-Qasir wirklich getan hast!"
"Das ist nicht so einfach, Matthew."
"Fang einfach an!"
"In Ordnung. Lady Barrington hatte mir den Auftrag erteilt nach einem schon lange verschollenen Familienmitglied zu suchen. Genauer nach einen ihrer Vorfahren, Lord Dunham. Er hatte nach der Alexander-Rüstung gesucht und die Oase von Al-Qasir war sein erstes Ziel und damit auch meins."
"Nicht nur deins. Kandy, Prof. Sampson und Ich haben dort auch gesucht. Sampson hatte uns allerdings verboten ohne ihn die Grabanlage zu untersuchen."
"Aus guten Grund. Sampson hatte für einen gewissen Maurice La Grange gearbeitet und dies galt auch für Kandy McClusky."
"Was redest du da, Lara."
"McClusky gehörte zu La Grange's Schlägertruppe. Sie hat auch vor Mord nicht zurückgeschreckt. Meine Auftraggeberin, Lady Barrington, wurde durch sie getötet."
"Oh Mann, das ist hart. Wie eine Archäologin hat sie sich tatsächlich nicht benommen."
"Hm, sie hat zu dick aufgetragen, stimmt's?"
"Ist es dir auch aufgefallen, Lara", antwortete er zustimmend. " Was hast du da unten erlebt?"
"Das wirst du mir sicher nicht glauben, Matthew. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit zwei großen Bronzekriegern und Cerberus, dem Wächter der Unterwelt."
"Ray Harryhausen-Filme finde ich auch sehr gut, Lara, aber das ist nicht die Realität." Sein Blick schweifte zu den Objekten im Raum. "Auf der anderen Seite wiederrum, vielleicht stimmt es ja doch. Wie bist du in den Wetterschacht geraten?"
"Ich hatte gerade die leider leere Grabkammer gefunden als La Grange und Sampson mit ihrer Truppe auftauchten. Sie erweckten Cerberus zum Leben und ich musste mit in den Kampf eingreifen. Durch den übermäßigen Einsatz von Handgranaten konnte Cerberus zwar besiegt werden, aber die Statik der Grabanlage war danach hin und das Ganze stürzte ein. La Grange und Sampson konnten entkommen, aber ich war da unten eingeschlossen. Schließlich fand ich den Wetterschacht."
"Aus dem ich dich herausgezogen habe."
"Und das gerade noch rechtzeitig."
"Schön und dann ging es zu den Keram-Minen."
"Ja, ich hatte kurz vor den Kampf mit Cerberus ein Gespräch zwischen La Grange und Sampson aufgeschnappt in dem es um diese alten Minen ging."
"Wurdest du dort fündig?"
"Nein, die Rüstung war auch nicht dort, aber La Grange hat es fertiggebracht eine Horde Mumien zum Leben zu erwecken."
"Mumien?"
"Ja, du hast schon richtig gehört, Mumien. Sampson fiel einer dieser klapprigen Gesellen zum Opfer. La Grange überlebte und er brachte mich auf die Spur der Rüstung, denn bis dahin wusste ich nicht wonach Lord Dunham eigentlich gesucht hatte."
"Das hat ihn sicher nicht gefreut."
"Sein Gesichtsausdruck war schon sehr ulkig", pflichtete Lara ihm bei. "Ich vermutete dass Lord Dunham die Rüstung gefunden hatte, aber von ihm fehlte nachwievor jegliche Spur. Meine Mitarbeiter fanden allerdings eine, aber am Ende der Spur war der Lord verschollen. Sein Schiff war gesunken und niemand wusste wo. Ich fand schließlich einen Nachkommen des einzigen Überlebenden der Katastrophe und kam der Rüstung doch noch auf die Spur."
"Wohin ging es dann?"
"Nach Neuseeland, genauer gesagt einer kleinen vorgelagerten Insel, Disappointment Island. Ich informierte vorher meine Auftraggeberin darüber und das war mein Fehler. La Grange schickte Kandy McClusky zu ihr hin. Sie brachten sie um obwohl sie ihnen sagte wo ich bin. Zwar fand ich die Rüstung, aber La Grange war auch zur Stelle und setzte mich gefangen. Wir flogen mit einen Helikopter zurück. Mir gelang die Flucht und ich sprengte den Hubschrauber noch im Flug. Eine neuseeländische Fregatte fischte mich anschließend aus dem Pazifik. Den Rest kennst du aus den Medien."
"Stimmt. Gab es keine andere Möglichkeit als den Hubschrauber zu sprengen?"
"Vielleicht, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, aber unter den Umständen ist mir ehrlich gesagt nichts Besseres eingefallen, Matthew."
"Wahrscheinlich hast du Recht. Was willst du jetzt tun?"
"Na was wohl, mich stellen", antwortete Lara und betätigte zweimal den Schalter.